Die Anschauung des Ungreifbaren

Martin C. Schmid/1998

Jean-Christophe Ammann bezeichnet den Menschen als Zeitbinder. In Kunstwerken wird Zeit abgespeichert und im Museum als kollektives Gedächtnis bereitgehalten. Eine zeitliche Dimension läßt sich auch an Arbeiten von Klaus Fabricius zeigen, im besonderen an einem Bildzeichen, ein leicht anschwellendes, spitzwinkliges Dreieck mit schräger Basis, das in Bildern auftritt, die den Titel ‘Kathedrale’ tragen. Die Kathedrale verweist auf vergangene Zeiten, die aber nicht als sentimentale Erinnerung aufgenommen werden, sondern die in ihrer aktuellen Wirksamkeit überprüft werden. Verschiedene Vorstellungen und Auslegungen lagern sich im Laufe der Zeit an die Kathedrale an, die im Bildzeichen konzentriert und präsent gemacht werden. Durch diese Überladung mit Deutungsmöglichkeiten entzieht sich die Kathedrale einer Festlegung. Die Beziehung zwischen dem Bildzeichen der Kathedrale und der Vielzahl von Bedeutungen, die die Kathedrale mit sich bringt, läßt sich nicht einmal mehr als eine mehrdeutige bestimmen. Vielmehr steht die Kathedrale für die Idee der Wandelbarkeit von Erkenntnissen und der Auflösung einer letztgültigen Beurteilung.        

In einer älteren Arbeit von Klaus Fabricius erscheint eine Kathedrale als zentrales Element der linken Bildhälfte. Ihr wird eine aus vielen Kleinformen erzeugte unruhige Fläche gegenübergestellt. Erkennt man die spitzen Einzelformen der rechten Bildhälfte als Flammen, die übrigens ebenfalls häufiger in den Bildern von Klaus Fabricius, auch in Kombination mit Kathedralen, vorkommen, dann liegt eine den Kathedralen entsprechende Deutung nahe. Denn auch Flammen entziehen sich sowohl in stofflicher, als auch in funktioneller Hinsicht einem Zugriff. Als Bildzeichen jedoch verweisen die Flammen auf die Aufhebung des Festgelegten.

 Trotzdem thematisiert wird, wie sich Vorstellungen und Erkenntnisse einer Festlegung entziehen, ist gerade dies im Bild festgelegt. Im Bild wird der Schwebezustand des nicht klärbaren Rests sichtbar. So erscheint das Bild aus der Ferne betrachtet als ein Allgemeingültigkeit beanspruchendes Zeichen für eine bestimmte Vorstellung, das den Künstler als Produzenten eliminiert. Geht man jedoch näher an das Bild heran, zeigen sich Spuren der Herstellung: Pinselspuren, Korrekturen und Abkratzungen. Das Bild gibt sich als etwas Gemachtes zu erkennen. Der absolute Anspruch der Fernsicht wird zurückgenommen.

 So verweisen gerade auch die Machart und die Materialwahl auf die Relativierung des vermeintlich Festgelegten. Die aus Walzblei geschnittenen Flammenzungen erhalten im Bild eine gewisse Wandelbarkeit. Durch die Beleuchtung verändert sich im Licht-und-Schattenspiel die Wirkung der Flächenstruktur. Einen anderen Aspekt von Wandelbarkeit hat der auf der linken Bildhälfte eingesetzte Polyurethanschaum. Dieser zeigt sich nicht nur in der leichten Auswölbung der Papierdecke, die dem Druck der dahinterliegenden Schaumschicht nachgibt, sondern vor allem in der aus der Bildfläche herausquellenden Kathedrale. Der Polyurethanschaum, der zwar gezielt eingesetzt wird, drückt immer wieder über seine Grenzen hinaus. Die Eigendynamik des Schäumens muß ständig gebändigt und eingedämmt werden. Erst nach einiger Zeit entsteht mit der Erstarrung des Schaums, der dann nur noch leicht nachgearbeitet wird, ein Bildzeichen, das die Vorstellung von einem unkalkulierbaren Rest, von gedanklich nicht vollständig Faßbarem in sich birgt. 

Die Annäherung an das Thema des Nicht-Festlegbaren, wenn auch aus einer anderen Richtung, zeigt sich auch in Klaus Fabricius’ Photo- und Materialmontagen. Während ein aus der Geschichte entwickeltes Bildzeichen die Kathedralbilder dominiert, werden bei den montierten Bildern Fundstücke verwendet: Holzbrettchen, Eisenbleche oder Roststücke werden mit auf Klarsichtfolie kopierten Bildern in Verbindung gebracht. Sowohl die Materialien als auch die kopierten Bilder, die zumeist aus photographischen Abbildungen hervorgehen, bringen eine ihnen jeweils eigene Geschichte mit. Die Materialien zeigen Gebrauchs- und Verfallsspuren, die Photographien verweisen auf die im Moment der Aufnahme so existierende wirkliche Welt. Diese Authentizität wird jedoch aufgebrochen. Die kopierten Bilder sind durch eine starke Rasterung, durch Unschärfen und durch ihre Ausschnitthaftigkeit verfremdet. Sie geben sich als Bild von einem bereits existierenden Bild zu erkennen. Und sie werden in neue Zusammenhänge einmontiert. So werden die gefundenen Bilder von ihrer eigenen Geschichte befreit und in eine Neutralität entlassen, die es ermöglicht, die Bilder mit neuen Geschichten anzufüllen. Die Photographie als Abbild der Realität entzieht sich ihrer Festlegung.

Während in den Kathedralbildern geschichtliche Anlagerungen in einem abstrakten Bildzeichen konzentriert werden, gehen die Fundstück-Montagen den umgekehrten Weg: konkrete Bilder entledigen sich ihrer ursprünglichen Bedeutung. Beide Ausdrucksmittel führen zu einer Befreiung des Bildes, die es schafft, den Betrachter über seine bestehenden Vorstellungen hinausblicken zu lassen.

Klaus Fabricius’ Bilder entstehen aus dem Anschauen, ohne auf vorangehende, sprachlich formulierte Konzepte zurückzugreifen. Nichtsdestotrotz werden seine Bilder von einer grundsätzlichen Idee, der Fragwürdigkeit der Kenntnis von Welt und deren letztlicher Ungreifbarkeit, getragen.